Geliebte Tradition, offene Tradition?


In seinem als prophetisch gehandelten Buch "Heerlager der Heiligen" von 1973 lässt Jean Raspail einen Oberst antreten, der in Anbetracht der Lage, d.h. der anstehenden Invasion Frankreichs durch eine Million einwanderungswillige, ausgehungerte indische Flüchtlinge, auf verlorenem Posten steht. Seinen Auftrag, die Sicherung der Grenzen, wenn nötig mit Waffengewalt, kann er aufgrund der zahlreich desertiernden Soladten und einer allgemeinen pazifistischen Grundstimmung in der Bevölkerung, nicht umsetzen. Vor Anbruch der Morgendämmerung findet er schließlich vier Militär-Musiker, zwei Trommler und zwei Hornisten, die das Totensignal, ein militärische-musikalisches Abschiedszeremoniell spielen. Der Oberst grinst, die verbliebenen Soldaten brechen in Jubel aus, heißt es im Roman. Denn, so Raspail weiter, die, die Tradition lieben, nehmen sie nicht allzu ernst.

Und ist es nicht so: je lieber uns eine Tradition ist, umso weniger müssen wir sie verbissen und zwanghaft verteidigen. Nicht nur, weil wir um die erprobte Verlässlichkeit der darin aufgehobenen Praktiken wissen, sondern, weil es letztendlich eine kontingente Form ist, die, obwohl sie zu unserer Form geworden ist, was ihre Kontingenz relativiert, kein Anspruch auf Absolutheit stellen kann. Im Gegensatz dazu steht die buchstabengetreue und oftmals humorlose Umsetzungsgewalt aller Uberschreitungsideologien. Denn hier verbindet sich der Glaube an eine heilsbringende Zukunft mit der Rest-Unsicherheit, ob die dazu notwendigen Maßnahmen tatsächlich zu jener Zukunft geleiten können. Die steigende Konsequenzbereitschaft ist sozusagen der negative Rückkoppelungseffekt einer sich entziehenden Zukunft.

Paradoxer Weise ist so jede geliebte und gelebte Tradition zukunftsoffener als die um eine bessere Zukunft bemühte Ideologie, die sich in ihre eigene Gegenwart zurück-schließt. Dies ist der eigentliche Grund, warum sich die Tradition im Gegensatz zur Ideologie nicht allzu ernst nehmen muss, was wiederum nicht heißt, dass sie um den Ernst der Lage nicht weiß.